Rede der Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit zur Gedenkveranstaltung zum 8. Mai

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrte Frau Parnass, liebe Peggy,

guten Tag Frau Franzisca Henning,

sehr geehrter Herr Senator Dr. Carsten Brosda,

liebe Mitglieder des Konsularischen Korps,

sehr geehrte Abgeordnete,

meine Damen und Herren.

 

im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft begrüße ich Sie bei uns im Rathaus und freue mich sehr, dass wir heute bereits zum zweiten Mal den „Gedenktag 8. Mai“ begehen.

 

Hier im Rathaus mit einer Zentralen Feierstunde, und nachher auf dem Rathausmarkt mit vielen Menschen aus der Stadtgesellschaft, die sich einsetzen für die Auseinandersetzung mit der Gefahr, die von hart Rechts droht und gegen die wir gemeinsam kämpfen, in unserer Stadt und für Menschlichkeit und Frieden.

 

Heute machen wir das, indem wir an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 79 Jahren erinnern und aller Befreiten und den Befreienden gedenken.

 

Wir alle sind dankbar, seit 79 Jahren ohne Krieg zu leben, seit etlichen Jahrzehnten vereint mit unseren Nachbarn in der Europäischen Union.

 

Aber sicher – nein, sicher fühlen wir uns nicht mehr, angesichts des Angriffs-Kriegs, mit dem Russland nun schon so lange Zeit Leid und Tod über die Ukraine bringt.

 

Sicher fühlen wir uns nicht mehr, wenn wir sehen, wie der Staat Israel, gegründet als Zufluchts- und Heimatort für die Überlebenden der deutschen Judenverfolgung, angegriffen wird und sich seit Monaten der Konflikt noch verschärft. 

 

Es ist dieser Tage wirklich nicht einfach, über Frieden und Freiheit zu sprechen, aber gerade deshalb ist es richtig und wichtig, dies heute zu tun.

 

Wenn wir über die Perspektiven von Befreiung sprechen, ist das gleichermaßen eine Auseinandersetzung mit den Bedingungen für einen Frieden, der mehr ist als die Abwesenheit von Krieg.

 

Der Blick in die Vergangenheit lohnt deshalb, weil er uns einen vernünftigen Diskurs darüber ermöglicht, wie wir eine solidarische Gesellschaft organisieren können.

 

Doch wer,

meine Damen und Herren, wer ist eigentlich gemeint, wenn wir im Jahr 2024 zurückblicken und vom 08. Mai als Tag der Befreiung sprechen?

 

Den Befreiern, den Alliierten, sind wir dankbar.

Sie haben unseren freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat überhaupt erst möglich gemacht.

 

Aber Befreite?

Das ist natürlich richtig, wenn wir damit die Inhaftierten und Verfolgten meinen, KZ-Häftlinge, sofern sie Lager und Todesmärsche überlebt haben, die Widerstandskämpfer:innen und alle Opfer der Faschisten, die den Naziterror zumindest körperlich überstanden haben. Sie wurden an diesem Tag vom Hitler-Regime und aus der Lebensgefahr befreit.

 

Stellvertretend für die Überlebenden zitiere ich Ralph Giordano, der anlässlich einer Ausstellungseröffnung zum Folterquartier der Gestapo, also dem Stadthaus, 2012 hier im Rathaus sagte:

 

„Ich habe, mit den Meinen, den Wettlauf zwischen der „Endlösung der Judenfrage“ und dem Endsieg der Alliierten nur knapp gewonnen und Hitlerdeutschland nur um Haaresbreite überlebt.

Wenn die 8. Britische Armee des Feldmarschalls Montgomery nur ein paar Tage später als den 3. Mai 1945 in Hamburg einmarschiert wäre, hätte sie uns, Eltern und drei Brüder, in unserem rattenverseuchten Verlies da oben an der Alsterdorferstraße nur noch verhungert vorgefunden.

Mit Menschen hatten wir bei unserer Befreiung nur noch entfernte Ähnlichkeit“.

 

Für den Großteil der Deutschen fühlte sich der 8. Mai 1945 allerdings nicht wie eine Befreiung an. Diese Diktion vermittelt leicht das falsche Bild von einem unterdrückten Volk, das von einer kriminellen Oberschicht gezwungen und unterdrückt wurde.

 

So war es aber nicht. Die meisten hatten das System unterstützt; die einen als glühende Anhänger:innen von Hitler und der NS-Ideologie, die anderen als schweigende Mitläufer:innen. Nur die wenigsten leisteten aktiven Widerstand gegen die Nazis.

 

Die deutsche Bevölkerung ist zunächst mehrheitlich auf die Propaganda der Nazipartei hereingefallen. Mit Übertreibungen und Lügen wurden Hass und Misstrauen geschürt, die Weimarer Republik verächtlich gemacht, die Demokratie verhöhnt.

 

Den Reichstag nannten die Nazis „Quasselbude“, über die handelnden Politiker:innen gossen sie Hohn und Spott, und eine willfährige Presse folgte ihnen dabei.

 

Die Rechten hatten damit Erfolg, und eine steigende Zahl von deutschen Wähler:innen fiel auf sie herein. Hitler hat sich nicht an die Macht geputscht, die Wahlberechtigten in Deutschland haben ihn und seine Schlägertrupps gewählt.

 

In den folgenden 12 Jahren wandelte sich das Bild für manche. Einige, die zu Anfang begeistert dabei waren, wandten sich ab. Es gab Widerstand und Menschen, die ihr Leben riskierten, um Widerstand zu leisten.

Aber zu wenige schlossen sich ihnen an - die übergroße Mehrheit nahm die Entwicklung klaglos hin.

 

Viele profitierten ja: Es gab neue Arbeit im Autobahnbau und in der Kriegsproduktion, Vorteile davon, dass die jüdischen Mitbürger entrechtet wurden, und später machten viele Firmen gute Geschäfte mit dem Einsatz von Hunderten oder sogar Tausenden von Zwangsarbeiter:innen.

Auch in Hamburg. Sie marschierten – für jedermann sichtbar – durch die Städte, vom jeweiligen Lager zur Einsatzstelle.

 

Die Transportzüge, mit denen Millionen von Menschen in die sogenannten Konzentrationslager geschafft wurden, fuhren auf ganz normalen Bahnstrecken und durch belebte Bahnhöfe. Und zumindest das Verschwinden von immerhin fast zehn Prozent der deutschen Bevölkerung konnte man wohl kaum übersehen.

 

Und dennoch war es nach 1945 und für viele inzwischen sehr alte Menschen ungebrochen von 1945 bis heute üblich zu behaupten, man habe ja nicht gewusst von all den Gräueln.

Vielleicht eine Ahnung, manchmal, vereinzelt, dass da irgendwelche Dinge vor sich gingen. Aber gewusst? Niemals. Schon gar nicht war man dabei gewesen.

 

Im Mai 1945 verschwand der Nationalsozialismus beinahe über Nacht.  Keiner wollte es gewesen sein. Kollektiv wurde verdrängt.

 

Meine Damen und Herren,

vermutlich werden solche Selbstdarstellungen erfunden, um mit der eigenen Verstrickung, der eigenen Schuld fertig zu werden.

 

Ich weiß nicht, wie man nachts schläft, wenn man – aktiv oder durch Nichtstun – Mitschuld am Tod von Millionen von Menschen trägt. Vielleicht hilft da nur, alles zu verleugnen und so zu tun, als habe man nichts gewusst.

 

Das mag eine Erklärung sein – eine Entschuldigung ist es nicht.

 

Auch die Hamburgische Bürgerschaft hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, selbstkritisch blinde Flecken aus der Vergangenheit aufzudecken. Die Verbindungen der Nachkriegs-Abgeordneten zur NSDAP lassen wir derzeit wissenschaftlich untersuchen.

 

Natürlich tut es weh, wenn man erfahren muss, dass die geliebten Großeltern womöglich Dreck am Stecken hatten. Ich hatte allerdings nicht erwartet, dass wir dabei auch auf viel Unverständnis treffen würden – etwa von Enkeln, die nichts wussten von der NS-Vergangenheit ihrer Großeltern, und die das nun auch nicht mehr wissen wollen.

 

Enkeln, die mir nun vorhalten, dass die Geschichte endlich ruhen solle und weshalb man da nun noch im Dreck wühlen müsse. Die Entnazifizierung sei schließlich erfolgt, und damit gut.

 

Man muss, finde ich, denn Geschichte, Schuld und Unmenschlichkeit fallen nicht vom Himmel, sie werden von uns gemacht.

Wenn wir Lehren aus der Geschichte ziehen wollen, müssen wir versuchen, Zusammenhänge zu verstehen und die Macht von Stimmungen und Verunsicherungen begreifen.

 

Und dazu gehört nicht nur der Blick auf die unfassbaren Gräuel, die wir über die Welt gebracht haben, sondern auch auf die Gesellschaft in den 1930er Jahren und nach 1945.

 

Den 8. Mai historisch zu bewerten, damit taten sich die Deutschen lange schwer.

 

Eine, die Zeit ihres Lebens nicht lockerlies, Zeitzeugin und Mahnende und für viele von uns Vorbild zu sein mit ihrem Mut ist Peggy Parnass, die heute bei uns ist.

 

Liebe Peggy, es ist uns eine Ehre!

 

Du hast beide Eltern im Holocaust verloren und in deinem Buch „Kindheit“ deine grausamen Erfahrungen literarisch aufbereitet.

Wer das liest, fühlt mit dir und deinem kleinen Bruder (Gady), spürt deinen Schmerz, wird wütend auf all die Menschen, die euch und allen (?) Kindern auf der Welt so viel Leid zufügen.

 

Mich hat deine Erzählung tief berührt. Wir werden gleich darüber sprechen, wie du Hass und Verzweiflung in Mut verwandelt hast und welche Erinnerungen an diese Zeit du mit uns teilen möchtest.

 

Du, Peggy, warst eine der ersten und eine der lautesten, die sich dafür eingesetzt haben, dass der 8. Mai in Hamburg ein Feiertag wird.

Ganz hat es nicht geklappt; wir haben am 1. Juni 2022 aber immerhin beschlossen, den 8. Mai zum offiziellen Gedenktag zu machen.

 

Ich danke Dir stellvertretend für alle, die sich so lange eingesetzt haben.

 

Meine Damen und Herren,

 

es ist unsere Verantwortung, die Erinnerung an die Befreiung zu bewahren und an Nachfolgegenerationen weiterzugeben, an alle jungen Menschen, die nicht mehr aus erster Hand von den Zeitzeug:innen über die Gräueltaten der Nazis erfahren können.

 

 Gleich wird Franzisca Henning sprechen.

 

Sie ist die Urenkelin von Georg Kieras, der als Sozialdemokrat aktiven Widerstand gegen die Nazis leistete. Sie arbeitet als Archivarin in der Gedenkstätte KZ Neuengamme und engagiert sich als Präsidentin beim Young Commitee der Amicale Internationale KZ Neuengamme.

 

Wir sprechen später darüber, wie Gedenkarbeit immer wieder neu gedacht werden kann und freuen uns, dass auch Senator Dr. Carsten Brosda seine Gedanken zu Erinnerungskultur und darüber was Freiheit bedeuten kann, teilen wird.

 

Meine Damen und Herren,

 

Rechtstaatlichkeit und Gleichberechtigung, Pressefreiheit, Versammlungs- und Meinungsfreiheit, soziale Fürsorge, demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen, Gewerkschaften und Parteien:

Das ist für uns heute selbstverständlich.

 

Aber irgendwo haben wir offenbar nicht aufgepasst, wenn es passiert, dass Abgeordnete beim Plakatieren krankenhausreif geschlagen werden oder Amtsträger:innen körperlich angegriffen, mit voller Absicht. Natürlich ist es richtig, dass die Innenminister nun härtere Strafen für Übergriffe gegen Politiker prüfen.

 

Aber: Entsetzt zu sein, reicht nicht mehr.

Wir müssen mit unseren Nachbarn, Arbeitskolleg:innen, Freunden und Verwandten sprechen.

 

Vernünftige Debatten, Mut, anständig zu sein und klare Kante gegen Extremismus darf unser Motto sein – jeden Tag und an der Wahlurne sowieso.

 

Mein Dank gilt allen Akteur:innen aus der Stadtgesellschaft, die sich für das Erinnern und gegen das Vergessen einsetzen, gegen Rassismus und gegen alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit – und für Toleranz und Mitmenschlichkeit, für Frieden und Freiheit.

 

Vielen Dank.

 

Datum: Mittwoch, 8. Mai 2024, 14 Uhr
Ort: Großer Festsaal, Hamburger Rathaus